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Kober-Studie
1.Thema
2.Begriff Zwangsarbeiter
3.Zwangsarbeiterdiskussion
4.Metzingen im 3. Reich
5.Das
6.Leben als Zwangsarbeiter
7.Die Firma Hugo Boss
8.Positive Beispiele
9.Schlussbemerkung
10.Bibliografie
Timm-Studie
1.Inhaltsverzeichnis
2.Zusammenfassung
3.Einleitung
4.Hugo Boss
5.Firmengesch. vor 45
6.Firmengesch. nach 45
7.Entnazifizierung
8.Abbildungen
9.Literatur
10.Quellen
11.Recherechebericht
Impressum
Presse-Veröffentlichung
Das Entnazifizierungsverfahren gegen Hugo Boss

In diesem Kapitel geht es nicht um eine rechtshistorische Bewertung oder Überprüfung des mehrjährigen Entnazifizierungsverfahrens gegen Hugo Boss. Sondern es soll nachgezeichnet werden, welche Entscheidungen die jeweils zuständigen Gremien zu welchem Zeitpunkt trafen. Dies ermöglicht eine Einschätzung der stufenweisen Abmilderung der Urteile, mit denen Boss anfangs als "belastet" eingestuft und schließlich als "Mitläufer" entlastet wurde.

Die französische Militärregierung wollte bei der Entnazifizierung vor allem die Wirtschaftselite zur Verantwortung ziehen, weil sie diese als die wichtigsten Wegbereiter und Stützen der Nationalsozialisten betrachtete. Grundlage für die Entnazifizierung in Südwürttemberg und Hohenzollern  waren die am 3. Dezember 1945 von der französischen Militärregierung erlassenen "Richtlinien für die politische Säuberung". Anfang 1946 wurde in Württemberg-Hohenzollern ein zweistufiger Säuberungsapparat installiert. Er beinhaltete Kreisuntersuchungsausschüsse in jedem der 17 Landkreise und Säuberungsausschüsse in den südwürttembergischen Industrie- und Handelskammerbezirken Ravensburg, Reutlingen und Rottweil, die 1945 neu gebildet worden waren. Diese Säuberungsgremien mußten entsprechend den Richtlinien der französischen Militärregierung mit Gegnern und Verfolgten des NS-Regimes aus den Kirchen, Parteien und Gewerkschaften besetzt werden, wobei die Besetzung der Ausschüsse einer Genehmigung der Franzosen bedurfte. Im Gegensatz zur Entnazifizierung in der amerikanischen Zone beteiligten die Franzosen die Deutschen also von Beginn an an der politischen Säuberung. Entsprechend den französischen Richtlinien sollten die Entscheidungen (ebenfalls anders als beispielsweise bei der anfänglichen Entnazifizierungspraxis in der amerikanischen Zone) nicht allein auf Formalbelastungen wie NSDAP-Mitgliedschaft basieren, sondern die Fälle sollten individuell geprüft werden.

Überprüft wurden die Geschäftsleitungen aller Firmen im Bezirk der jeweiligen Ausschüsse, die am Stichtag 1. Januar 1945 mindestens 20 Beschäftigte oder mehr als 500 000 RM Stammkapital hatten. Inhaber und leitende Angestellte kleinerer Betriebe wurden lediglich dann überprüft, wenn sie als Nazi-Aktivisten auf sich aufmerksam gemacht hatten. Die Überprüfung erfolgte zunächst anhand von Fragebögen, die die zu Überprüfenden Personen ausfüllen mußten. Außerdem konnten die Säuberungsgremien auch Zeugen und Betroffene vorladen oder anderweitig Auskünfte einholen.

Über Personen die politisch nicht belastet waren oder als NSDAP-Mitglieder nicht weiter hervorgetreten waren, konnte auf Kreisebene entschieden werden. Für die anderen (formal) Belasteten schlug der zuständige Kreisuntersuchungsausschuß Sanktionen vor. Der Säuberungsausschuß legte die Sühnemaßnahmen dann endgültig fest. Hugo Boss gehörte also aufgrund der Größe seiner Firma zu den Teilhabern oderBesitzern der 1500 Betriebe in Südwürttemberg, die automatisch überprüft wurden.

Der Reutlinger Kreisuntersuchungsausschuß stufte ihn in seiner Sitzung am 7. März 1946 in die Gruppe der "Belasteten" ein und schlug am 8. März folgende Sanktionen vor: Verbot der Ausübung einer leitenden Tätigkeit und Geldbuße in Höhe von 100.000 RM (was nach Rechnung von Boss zwei Drittel seines Vermögens gewesen wäre).

Der Ausschuß begründete diesen Vorschlag einer "sehr hohen Sanktion" damit, daß Boss schon vor 1933 in die NSDAP eingetreten war und "in großem Umfang Nutznießer des Systems gewesen ist". Grundlage der Empfehlung war neben dem von Boss ausgefüllten Fragebogen eine kurze Auskunft des Bürgermeisteramts Metzingen über die Person Boss' und die Geschäftsentwicklung seiner Firma.

 

Das zweistufige Säuberungsverfahren wurde noch während seiner Umsetzung unter anderem wegen den sehr uneinheitlichen Sanktionen, die die Kreisuntersuchungsausschüsse verhängt hatten, in Württemberg-Hohenzollern mit Genehmigung der Militärregierung neu organisiert. Gesetzliche Grundlage der Entnazifizierung in Südwürttemberg war nun die Rechtsanordnung zur politischen Säuberung vom 28. Mai 1946. Sie sah ein reines Verwaltungsverfahren ohne Berufungsmöglichkeit vor; lediglich neue Beweise konnten zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens führen. Auch hier wurde die Be- oder Entlastung nicht nach schematischen Kriterien ausgesprochen, sondern im Einzelfall geprüft. Mit dieser Rechtsanordnung wurde den beiden bisherigen Säuberungsgremien außerdem eine Instanz in Person des Staatskommissars für die politische Säuberung vorgesetzt, der die Entscheidungen vereinheitlichen sollte. Seine Entscheidungen wurden nach der Genehmigung durch die französische Militärregierung im Amtsblatt des Staatssekretariats veröffentlicht und eine Woche später rechtskräftig.

 

Der für Metzingen zuständige Reutlinger Säuberungsausschuß für die freie Wirtschaft begann mit seiner Arbeit erst nach dieser Rechtsanordnung vom Mai 1946. Er prüfte den Sanktionsvorschlag in seiner Sitzung am 3. Juli 1946 und legte Boss folgende Maßnahmen auf, die den Vorschlag des Kreisuntersuchungsausschusses verschärften: Eine Geldbuße in Höhe von

100.000 RM, außerdem jeweils für zehn Jahre: Entzug des passiven und aktiven Wahlrechts, Verbot, Mitglied einer politischen Partei, einer Gewerkschaft, einer Berufs- oder Standesorganisation zu werden, Verbot, öffentliche Ämter oder Ehrenämter zu bekleiden, Verbot, als öffentlicher Redner aufzutreten, schriftlich zu publizieren, eine Tätigkeit im Zeitungs- oder Verlagswesen oder im Buchhandel auszuüben, Verbot, Schul- oder Privatunterricht zu erteilen. Außerdem sollte ihm ebenfalls für zehn Jahre lediglich eine Berufstätigkeit als gelernter oder ungelernter Arbeiter oder Angestellter mit untergeordneten Tätigkeiten erlaubt sein.

Der Ausschuß begründete seine Entscheidung mit der frühen NSDAP-Mitgliedschaft Boss', mit seiner finanziellen Förderung der SS und mit den Uniformlieferungen an die Reichszeugmeisterei der NSDAP schon vor 1933. Der Aufschwung seiner Firma beruhe auf diesen Uniformaufträgen, die er wiederum seiner Parteimitgliedschaft zu verdanken habe. Deshalb sei er sowohl "Aktivist", als auch "Förderer und Nutznießer des Nationalsozialismus".

 

Hugo Boss nun versuchte mit Hilfe eines Rechtsanwalts gegen die drohende Sanktion - die sich offenbar lange vor ihrer offiziellen Bekanntgabe herumgesprochen hatte (was nicht verwundert, stammten die Mitglieder der Säuberungsausschüsse doch aus der Region oder aus dem Ort selbst) - zu protestieren. Er hatte jedoch zunächst keinen Erfolg. Der Staatskommissar überprüfte offenbar einige Angaben von Boss nochmals,v. 13.8.1945). Da dieses zweisprachige Formular in deutsch und englisch verfaßt ist, kann man davon ausgehen, daß es sich um einen Fragebogen der amerikanischen Militärregierung handelte: In der Akte fand sich zudem eine Entscheidung der Spruchkammer Nürtingen (ebd., Entscheidung der Spruchkammer Nürtingen, 1.3.1948), die Boss als "Mitläufer" einstufte. Dies würde bedeuten, daß gegen Boss zwei Entnazifizierungsverfahren liefen: Eines in der amerikanischen und eines in der französischen Besatzungszone. In der wissenschaftlichen Literatur sind solche F“lle bisher nicht beschrieben worden. Es kann lediglich vermutet werden, daß auch die Amerikaner Hugo Boss politisch prüften, weil seine Firma ein Warenlager (?) im Dorf Tischardt unterhielt (siehe dazu S. 9 oben), das in der amerikanischen Besatzungszone lag. Schloß sich dann aber der Entscheidung des Säuberungsausschusses an, die, wie oben zitiert, dann veröffentlicht und im November 1947 rechtskräftig wurde. Der Spruch hatte aber auch schon vor der Rechtskraft Auswirkungen gehabt: So durfte Hugo Boss bei der der ersten freien Nachkriegswahl in Württemberg-Hohenzollern, der Gemeinderatswahl im September 1946, nicht zur Urne gehen.u. Gemeindeprüfungsausschuß der Wählerlisten an Hugo Boss, 29.7.1946.

Die Entscheidung im Fall Boss war eine der drastischen Maßnahmen bei der Entnazifizierung der (mittelständischen) Wirtschaft in Württemberg-Hohenzollern. Zum Vergleich: Bei der Säuberung der Wirtschaft wurden im Bezirk der Industrie- und Handelskammer Reutlingen insgesamt 823 Personen überprüft. Boss war einer von 21 Männern, die nicht nur ein befristetes oder unbefristetes Berufsverbot erhielten, sondern zudem eine Geld- oder Vermögensstrafe zahlen sollten. Dabei war die über ihn verhängte Geldstrafe von 100.000 RM eine der höchsten: Die niedrigste betrug 300, die höchste 200.000 RM.

 

Die gegen Boss verhängten Maßnahmen wurden jedoch, wie viele andere auch, nie vollzogen: Bereits am 1. Juli 1947 (die Überprüfung der letzten Entscheidungen durch den Staatskommissar und die Militärregierung war noch nicht abgeschlossen) wurde auch in Württemberg-Hohenzollern das Spruchkammerverfahren eingeführt, das eine Revisionsmöglichkeit beinhaltete. Revision konnten u.a. diejenigen beantragen, die eine Geldstrafe von mehr als 15.000 RM zahlen sollten. Die Spruchkammern waren also vor allem mit der Revision bereits erledigter Fälle beschäftigt. Dies führte zur Rehabilitierung vieler Personen, die von den Säuberungsausschüssen mit hohen Strafen belegt worden waren.

 

So auch bei Hugo Boss: Er legte mit einem Schreiben an das Staatskommissariat gegen die verhängten Maßnahmen am 3. Dezember 1947 Revision ein, nahm ausführlich Stellung zu seiner persönlichen, politischen und beruflichen Biographie und zur Entwicklung seiner Firma; außerdem untermauerte er seine Revision mit "Bestätigungen", "Eidesstattlichen Erklärungen" etc. von 27 Personen. Zudem stellte er einen Aussetzungsantrag bezüglich der Geldbuße von 100.000 RM, dem der Staatskommissar auch stattgab.u. Staatskommissar an das Finanzamt Urach, 19.1.1948. Im Revisionsverfahren holte die Spruchkammer weitere Informationen ein: Sie befragte unter anderem einen Schulrektor, einen Angestellten des Arbeitsamtes und einen Handwerksmeister aus Metzingen. Letztendlich aber schenkte sie den von Boss vorgelegten Entlastungsschreiben Glauben.

Die im November 1947 veröffentlichte Entscheidung wurde dann jedoch bereits vor der Revision durch die Spruchkammer Anfang 1948 vom Staatskommissar selbst revidiert. Das Urteil lautete jetzt auf eine Geldbuße in Höhe von 75.000 RM; außerdem wurde für je fünf Jahre der Entzug des passiven Wahlrechts, das Verbot, Mitglied einer politischen Partei zu werden, das Verbot, Ehrenämter zu bekleiden und das Verbot, als öffentlicher Redner aufzutreten, schriftlich zu publizieren, im Buchhandel, Zeitungs- oder Verlagswesen zu arbeiten, ausgesprochen.

 

Die Tübinger Spruchkammer II nun hob die beiden Entscheidungen des Staatskommissariats vom November 1947 und Februar 1948 in ihrer Sitzung am 2. März 1948 auf, stufte Boss in einer Abstimmung mit dem Ausgang 6:1 als "Mitläufer" ein und belegte ihn mit einer Geldbuße in Höhe von 25.000 RM, ferner wurde ihm das passive Wahlrecht bis 31. März 1951 entzogen, und außerdem sollte Boss die Kosten des Verfahrens tragen. Sie begründete ihren Beschluß damit, daß Boss zwar bereits 1931 der Partei beigetreten war, im Gegensatz zum Staatskommissariat gewichtete sie jedoch diese politische Überzeugung geringer und stellte fest, daß Boss "dies hauptsächlich aus Not", d.h. aus wirtschaftlich-taktischen Erwägungen, getan habe. Außerdem definierte die Spruchkammer Boss' wirtschaftliche Entwicklung in der NS-Zeit im Gegensatz zum Staatskommissariat nicht als "Nutznießerschaft", sondern meinte, daß "das rasche Emporkommen" der Firma "aus der Gesamtaufrüstung" resultiere.

 

Dieser Spruch wurde jedoch nie rechtskräftig: Dazu wäre die Genehmigung des Urteils durch die französische Militärregierung in Tübingen und die Veröffentlichung im Regierungsblatt notwendig gewesen. Bevor dies geschah, starb Hugo Boss am 9. August 1948. Im Sommer 1948 wurde dann, eben weil Boss vor der Rechtskraft starb, auch der Spruch der Spruchkammer II vom 2. März 1948 aufgehoben und das Verfahren eingestellt.

 

Diese Entwicklung bei der Entnazifizierung von Hugo Boss ist keine Ausnahme: Für die politische Säuberung ist allgemein festgestellt worden, daß im Laufe der Jahre die großen Unterschiede im politischen und wirtschaftlichen Handeln der Unternehmer durch die sukzessive Herabsetzung der Sühnemaßnahmen, an deren Ende meist die Einordnung als "Mitläufer" oder "Entlasteter" stand, eingeebnet wurden.

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